Prolog

 

Sankt Hans Aften, überall im ganzen Land erhellten viele kleine und große Feuer den Nachthimmel über Dänemark. So auch in Jonstruplager bei Ballerup.

 

Ausgelassen sein und feiern, bis der Arzt kommt, war an diesem Abend auch die Devise der Lehrgangsteilnehmer von der Politiskolen in Brøndby bei Kopenhagen. Alle hatten den gerade beendeten Lehrgang im Großen und Ganzen mit Bravour bestanden. So gab es genug Anlass, die Sommersonnenwende in diesem Jahr so richtig zu feiern.

 

Manch einer lag bereits mit verdrehten Augen und selig schlummernd im Bett. Oder am Boden, wie Erik mit einem beunruhigten Blick auf den Ausbilder Svømming feststellte, der eben noch mit ihnen am Lagerfeuer gesessen hatte. Mitten im Satz war er hintenübergefallen und ließ ein seliges Schnarchen erklingen. Einzig der harte Kern der Lehrgangskameraden saß hier noch beisammen … und er, der so gut wie nie trank. Er sollte nun auch den Weg auf seine Stube antreten, riet ihm die Vernunft. Und doch hielt ihn das herzhafte Lachen der Frauen vom benachbarten Lagerfeuer fest. Und wieder war er zu schüchtern, um aufzustehen, rüberzugehen und sich zu ihnen zu setzen. Zumal Grethe bei ihnen saß. Eigentlich Margarethe, wie sie ihm und jedem, der es hören wollte, stolz berichtete. Sie war nämlich am vierzehnten Januar 1972 geboren; der Tag, an dem Margarethe II. zur dänischen Königin gekrönt wurde. Nein, Margarethe war keine dieser viel zu selbstbewussten weiblichen Polizeikadetten, die immer nur ihre Karriere und ihre Gleichberechtigung im Kopf hatten. Grethe war anders. Ihr langes, blondes Haar glänzte wie Gold, wenn die Sonne darauf schien. Ihre Fröhlichkeit war ansteckend und für jeden hatte sie ein liebes Wort bereit. Manches Mal hatte Erik den Eindruck, dass er sie Jahre und nicht erst die zwei Wochen kannte, die sie nun in Jonstruplager waren. Dabei war Grethe für andere nur die Küchenfee, die dafür sorgte, dass die Truppe nicht verhungerte.

 Als hätte sie seine verliebten Gedanken gespürt, erhob sich Grethe und steuerte leicht schwankend auf seine Gruppe zu. Der Widerschein der Flammen in ihren Augen sandte strahlende Blitze bis in sein Herz hinein.

 »Hallo Erik, du sitzt so still da?« Sie trat vor ihn und strich ihm mit den Händen lachend durchs Haar. »Willst du nicht endlich mal mit mir tanzen? Die Nacht ist so milde und bald bist du nicht mehr hier, bei mir.«

 Die Angst davor, sich zu blamieren und zu versagen, schnürte ihm die Kehle zu. Wieder einmal! Dabei würde er zu gern ihre Hand ergreifen und sie zu sich herabziehen.

 »Hej Grethe! Forlad den genert Romantiker«, lästerten die Kameraden in seiner Nähe johlend. »Lass diesen Romantiker sitzen. Komm zu uns, hier sitzen echte Kerle!«

 Erik brachte einen bitterbösen Blick zustande und musste doch mit wehem Herzen erkennen, dass Grethe ihn sitzen ließ und zu den Kameraden ging, die sie begeistert in ihre Runde aufnahmen. Er raffte sich auf und folgte ihr an die Peripherie der Gruppe. Der blöde, angetrunkene Blick der Männer ruhte auf dem plötzlichen Störenfried. Wie auch der von Grethe. Erik nahm all seinen Mut zusammen und sprach sie an: »Magst du nicht mit mir ein wenig spazieren gehen?«

 »Sorry, mein Lieber.« Erste Unmutslaute der Betrunkenen mischten sich in ihre Worte, die wie ein Faustschlag wirkten. »Aber nein, Erik. Du hast deine Chance gehabt. Ich will meinen Spaß und keinen Loser.«

 Das Letzte, was der junge Polizeikadett in dieser Nacht bewusst wahrnahm, war Stigs Gesicht, das mit einem Grunzen in ihrem tiefen Dekolleté versank.

 

  ***

 

Erst am Nachmittag des folgenden Tages – die meisten der Lehrgangsteilnehmer waren längst abgereistsah er sie wieder. Es war auf dem Flur im Gebäudetrakt der Frauen.

 »Das hättest du dir vorher überlegen sollen, du Närrin!«, schnauzte Irene, eine Kollegin, die er bis dahin sehr geschätzt hatte, sie ungehalten an. »Wie kann man nur so blöde sein? Da kann ich dir auch nicht helfen.« Sie schulterte ihren Seesack und ließ die junge Frau mitten auf dem Flur stehen.

 »Grethe?« Erik fasste all seinen Mut zusammen und berührte die hemmungslos weinende Frau sachte an ihrer Schulter. »Was ist mit dir? Kann ich dir vielleicht helfen?«

 Sie sah zu ihm auf und er musste sich nicht mehr fragen. Alle Qual und alles Leid lagen in diesen ertrinkenden Blicken. Wortlos nahm er sie in den Arm und sie ließ es geschehen.

 

 

 

Kapitel 1

 

 Langsam schob sich die strahlend helle Sonne über die Baumwipfel der Mosevrå Klitplantage. Ihre gleißenden Finger huschten über den finsteren, gezackten Wall und ergossen sich über die wie tot daliegende Fläche der Kallesmærsk Hede.

 Die Natur um ihn herum begann langsam zu erwachen. Er genoss das wärmende Gefühl, das ihm über seinen ausgekühlten Rücken kroch. Was für eine Wohltat für die Knochen. Forget it!, riss er sich auf der Stelle zusammen. Es gab keinen Grund zum Klagen. Still zu warten und auszuhalten war ein wichtiger Bestandteil seines ganzen Lebens. Der Gedanke an seine Bestimmung erfüllte ihn mit dem warmen Gefühl von Stolz und Zuversicht. Bald, sehr bald würde es so weit sein. Fast ehrfürchtig strich er über das kühle Metall der Waffe, die vor ihm auf der Zeltbahn lag. Die Braut eines Soldaten – seine Braut. Er war sich sicher, keine Frau würde dieses Kribbeln in ihm auslösen, das ihn erfasste, wenn er sein Gewehr berührte. Herr über Leben und Tod zu sein. Wie in diesem Augenblick. Entschlossen packte er die Schulterstütze und zog sie zu sich heran.

 Durch das Hochleistungsobjektiv hindurch beobachtete er, wie sich die Feuchtigkeit in einem feinen Nebel von Boden und Heidekraut löste. Nur um sich gleich darauf zu verflüchtigen. Für einen richtigen Bodennebel würde es nicht reichen. Dafür hatte die Julisonne bereits zu viel Kraft. Tief atmete er die würzige Luft ein und nahm die Natur um sich herum auf. Der weiche, melodische Klang einer Heidelerche schwebte direkt über ihm. Sie lockte ihn aufzuschauen, um ihrem Tanz zu folgen. Er widerstand auch dieser Verlockung und konzentrierte sich weiter auf das kleine unscheinbare Stück Stoff, das sich kaum merklich im Fadenkreuz des Zielfernrohrs bewegte. Ein leichter Wind kam auf, aus Südwest. Doch es war nicht der Rede wert. Der Lauf der Waffe senkte sich langsam, während sein Blick die rotweißroten Sprossen des weithin sichtbaren trigonometrischen Punktes hinabstieg.

 Da … eine Bewegung. Kaum wahrnehmbar schob sich hinter einem der von Heidekraut bewachsenen Hügel das Geweih eines Rothirsches hervor. Der Herzschlag des Mannes erhöhte sich unweigerlich, als sich das majestätische Tier von allein ins Fadenkreuz bewegte. Durch das Hochleistungszielfernrohr wirkte es, als stünde der stattliche Hirsch keine zehn Meter vor ihm. Dabei war es annähernd das Hundertfache an Entfernung, das sie trennte. Dennoch, kein Problem, um einen sicheren Schuss anzubringen. Zeit, du hast alle Zeit der Welt.

 Der Zwölfender hatte unterdessen die sanfte Erhebung des Dünenausläufers erklommen. Sichernd sah er sich um. So, als würde er wittern, dass sein Leben sich in höchster Gefahr befand. Der warme Atem aus den Nüstern stieg in den frühen Morgenhimmel, ebnete den Pfad für die Seele des Tieres. Und er war dieser Herr über das Leben und den Tod. Sein Zeigefinger krümmte sich und suchte den Druckpunkt, während er bewusst seinen Herzschlag, den Atem flach hielt. Dann dieser Moment, in dem alle Geräusche um ihn herum verstummten, der Augenblick, an dem er Gott ganz nahe war und in seinem Namen richtete.

 Der kurze Stoß, mit dem der Schaft des Präzisionsgewehrs gegen seine Schulter schlug. Nahezu zwei Sekunden dauerte es, bis das Geschoss auf diese Entfernung hin sein Ziel traf. Schlagartig brach das tödlich getroffene Tier zusammen und löste in dem Schützen ein überströmendes Glücksgefühl aus.

 »Herr Gott! Was für ein Unterschied«, stöhnte er zitternd und legte die Waffe vor sich ab. Diese HP-BT Munition war der Burner. Mit einem rauen Lachen rollte er sich auf den Rücken. Endlich! Endlich war er bereit für mehr. Mit Tränen des Glückes in den Augen sah er in den Himmel und verfolgte den Flug der Heidelerche, die ihren Gesang erneut angestimmt hatte. So als wäre nichts geschehen, im Laufe der Zeit.

 

 

 

Kapitel 2

 

 Mit einem tiefen Seufzer widmete Peder Wieland sich den roten Feldern in der Service-Datei. Nun hatte Anne Grethe sich heute Morgen auch noch krankgemeldet. Dabei rollte am Wochenende die erste große Reisewelle dieses Sommers an und in vierundzwanzig der von ihm betreuten Ferienhäuser wechselten die Gäste. Davon siebzehn Einheiten mit einer gebuchten Endreinigung, stöhnte er innerlich. Das war mit den beiden restlichen Teams definitiv nicht zu schaffen. Und der Markt war wie leergefegt, seitdem die großen Platzhirsche der Ferienhausvermieter ihr Angebot ständig ausweiteten und ihm zudem die Leute abwarben.

 Sein Blick fiel dabei auf Lykkebo, das Ferienhaus seines besten Freundes Mads und dessen Partnerin Silje. Auch bei diesem Haus stand ein Mieterwechsel an. Er würde Silje anrufen müssen und sie darum bitten, die gebuchte Endreinigung selbst vorzunehmen.

 Ein mildes Lächeln huschte ihm über das Gesicht, als er sich an die aufregenden Abenteuer erinnerte, die er und seine Freunde im letzten Jahr bestanden hatten. Mads und Silje waren in der Tat ein glückliches Paar geworden.

 Die Freude darüber erlosch flackernd, als er dabei sein eigenes Liebesleben unter die Lupe nahm. Sybille … Diese Ohnmacht, die sich schleichend in ihm emporschob, drohte ihn ein weiteres Mal zu übermannen. Dabei war die Beziehung zu Siljes bester Freundin im Grunde von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Sybille hatte ihm gegenüber nie ein Geheimnis daraus gemacht, sich nicht an die Kette legen lassen zu wollen. Zudem war die Entfernung zwischen Hamburg und Blåvand auf Dauer kein Pappenstiel. Tödlich für eine Fernbeziehung, in der man sich einmal im Monat für ein paar Tage traf.

 Wieland schloss die Augen und mühte sich, die galoppierenden Gedanken auf den Job zurückzubringen. Das Thema Sybille Martens war ein für alle Male durch! Spätestens nachdem sie ihn vorgestern in ihrem letzten Telefonat vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Sie würde zu ihrem Sohn nach Neuseeland ziehen, wo dieser eine Frau kennengelernt und Knall auf Fall geheiratet hatte.

 Slut nu! Ärgerlich auf sich selbst griff er zum Telefon und wählte die Nummer der Lynggaards.

 »Hej, dette er Silje fra Mads Lynggaards telefon«, begrüßte ihn eine fröhliche Stimme.

 Wieland wunderte sich immer wieder, welche Fortschritte Madsʼ Partnerin mit der Sprache ihrer neuen Heimat machte. »Hej, hier ist Peder. Entschuldige, dass ich euch so früh anrufe.« Er massierte sich seinen verspannten Kiefer und suchte nach den passenden Worten. Wusste er doch nur zu gut, wie sehr Mads̕  Partnerin in ihrem Alltag eingespannt war. »Ich habe eine kleine Problem«, wechselte er in Siljes Muttersprache. »Meine Reinigungsteams … ich habe Krankmeldungen.«

 »Und nun suchst du ein paar Freiwillige, die einspringen, hm?« Das Lachen von der anderen Seite her klang gepresst und doch freundlich. »Was sagt Sybille denn? Sie wollte doch dieses Wochenende hochkommen.«

 Peder biss sich auf die Lippe und murmelte ein verkniffenes: »Da ist etwas dazwischengekommen.«

 Eine kurze Pause entstand, bis Silje Nehrmann mit einem tiefen Seufzer sagte: »Du möchtest also, dass wir Lykkebo selbst reinigen.«

 »Ich würde euch nicht darum bitten, wenn es anders ginge«, versicherte Peder der Freundin. »Die jetzigen Mieter wollen erst morgen früh abreisen. Und die neuen Mieter … Ich denke, die sind sehr vornehm mit ihren Wünschen. Ein Ehepaar und zwei Kinder. Sie haben Lykkebo für ganze vier Wochen gemietet.«

 »Es ist ja schon gut«, versprach die Angerufene mit matter Stimme und fügte an: »Du weißt, dass du das kaum wiedergutmachen kannst, oder?«

 Silje Nehrmann beendete das Gespräch und erwiderte die Blicke ihrer beiden Männer, die sie über den Frühstückstisch hinweg ansahen. »Das war Peder.«

 »Oh ne näch!« Mikkel, der Sohn ihres Partners, rollte theatralisch mit den Augen. Es war sein Lieblingsspruch, seitdem er fleißig dabei war, mit Siljes Hilfe ein gutes Deutsch zu lernen. »Müssen wir das Ferienhaus schon wieder selbst putzen?«

 Bevor Silje sich dazu äußern konnte, ergriff Mikkels Vater das Wort: »Hör bitte auf, dich zu beschweren. Du wolltest schließlich auch, dass wir Lykkebo behalten.«

 »Ich finde es so lieb von euch, dass ihr mir helfen werdet.« Silje musste wider Willen schmunzeln, wo doch MadsBlicke nahezu identisch mit denen seines Sohnes waren. Von der Vorfreude darüber, ihr beim Hausputz zu helfen, sprachen sie beileibe nicht. »Peder sagt, dass die jetzigen Mieter morgen früh abreisen. Wenn wir alle einen Schlag reinhauen, können wir sogar noch ein Stück weit ausschlafen.«

 »Wir hätten das Haus damals doch verkaufen sollen«, scherzte Mads Lynggaard und ergänzte mit einem Augenzwinkern: »Mitsamt seiner renitenten Mieterin, die mittlerweile unser ganzes Leben umgekrempelt hat.«

 Silje lachte herzhaft und knuffte ihn in die Seite. »Nun beschwer dich nicht, dass ich euer Leben in die Hände genommen habe. Du hattest deine Chance gehabt, mich zum Teufel zu schicken. «

 Entschlossen ergriff Mads Lynggaard zärtlich die Hand der zierlichen Frau und zog sie zu sich auf seinen Schoß. Was diese nur zu gern mit sich geschehen ließ. »Ich habe ja auch sehr um dich kämpfen müssen«, raunte er ihr ins Ohr und besiegelte seine Worte mit einem sanften Kuss.

 »Oh, müsst ihr euch denn schon wieder küssen?«, stöhnte Mikkel altklug und erhob sich vom Frühstückstisch. »Lost lieber aus, wer mich heute zu Großmutter fährt.«

 »Der wird schon genauso frech wie sein Vater.« Silje befreite sich widerstrebend aus der zärtlichen Umarmung ihres Freundes und schützte Betriebsamkeit vor. »Tina braucht mich heute rechtzeitig. Es kommt einiges an Ware herein.«

 »Kein Problem.« Auch Mads erhob sich und gab seinem Sohn das Zeichen zum Aufbruch. »Ich fahre mit Mikkel nach Oksbøl. Susanne liegt mir in den Ohren, weil das Siel vor dem Haus immer wieder verstopft ist.«

 »Ja, das wäre schön. Grüßt sie ganz lieb von mir. Ach, und vergiss bitte nicht, Susanne daran zu erinnern, dass sie Sonntag zum Mittagessen eingeladen ist.«

 »Das werde ich ausrichten. Hab eine schöne Arbeit und grüß mir Tina.« Mads verabschiedete sich mit einem liebevollen Kuss und sammelte Sohn und Hund ein.

 

 ***

 

Kurz darauf verließ auch Silje den Lynggaard-Hof, der ihr längst zu einer neuen Heimat geworden war. Dabei hatte sie nie vorgehabt, sich überhaupt noch einmal in einen Mann zu verlieben. Schon gar nicht in einen, der gut und gerne ihr Sohn hätte sein können. Oder gar für Mikkel so etwas wie ein Mutterersatz zu werden. Sie atmete tief durch und quittierte das zufriedene Lächeln, das ihr aus dem Rückspiegel entgegenstrahlte. Wie gut, dass ihre „Männer“ damals so entsetzlich hartnäckig gewesen waren, sie zu adoptieren.

 Schluss jetzt mit den Rückblicken, es wurde Zeit, dass sie vorankam. Sie hatte ihrer Freundin und Chefin Tina Andersen versprochen, rechtzeitig im Geschäft zu sein, um die ankündigte Ware anzunehmen.

 

***

 

Peder Wieland hatte sich gerade mit frischem Kaffee versorgt, als das Knirschen auf dem Kies Kundschaft ankündigte. Durch das halb geöffnete Fenster erblickte er einen SUV mit deutschem Kennzeichen. Vollgepackt bis unter das Dach. Hm, die Heimreiserallye begann diesen Freitag ja ziemlich früh. Gedankenverloren nahm er einen tiefen Schluck zu sich und spürte schmerzhaft, wie das heiße Getränk seine Kehle zu verbrühen drohte.

 Mit Tränen in den Augen und dem Gefühl, einen Ziegelstein verschluckt zu haben, kehrte er ins Büro zurück. Gleichzeitig trat der Besucher … nein, eine Besucherin von der anderen Seite her ein.

 Es lag nicht am Kaffee, dass ihm die Luft wegblieb. Wow, diese elegante Dame war eine echte Augenweide. So, wie sie langsam den Raum durchschritt und vor dem Counter stehen blieb.

 »Hallo.« Sie straffte sich, als müsste sie sich erst dazu überwinden, gefasst weiter zu sprechen. »Ich …«, setzte sie ein weiteres Mal an. »Ich weiß, wir sind viel zu früh dran.«

 In Peder Wieland arbeitete es wie wild, wobei tausend Eindrücke zugleich auf ihn einzustürzen drohten. Allem voran war es diese Verletzlichkeit, mit der sie vor ihm stand und den Beschützerinstinkt in ihm weckte. »Zu früh? Für was?«, fand er sich und seine Stimme wieder und spürte dem kratzenden Schmerz in seinem verbrühten Rachen nach.

 »Wir haben ein Haus gebucht. Ich meine, mein Mann hat es gebucht.« Sie trat bis an den Tresen und legte ihre schmalen, manikürten Hände auf die abgenutzte Oberfläche. Nur um sich gleich darauf nervös durch ihr mittellanges blondes Haar zu fahren.

 »Für heute?« Peder öffnete seinen Belegungsplan, auf dem keine einzige Anmeldung für heute stand. »Wie ist denn dein Name?«

 »Marisa Fechtner.« Sie legte ihre Handtasche vor sich ab und begann hektisch darin herumzusuchen. »Wir … ich meine, mein Mann Boris hat ein Ferienhaus bei Ihnen gebucht.«

 Endlich schien sie ihre Buchungsunterlagen gefunden zu haben. Mit zitternden Fingern faltete sie die Bögen auseinander und schob sie ihm zu.

 Peder warf einen kurzen Blick drauf. »Oh, das ist gar nicht schön.« Dabei gelang es ihm kaum, einen bedauernden Seufzer zu unterdrücken. Er sah auf und versank in ihren verunsicherten Blicken. »Ihr seid einen ganzen Tag zu früh gekommen.«

 Ein verzweifeltes Stöhnen schlich sich zwischen den Händen hindurch, hinter denen sie ihr Gesicht verbarg. Peder fühlte sich ohnmächtig. Wie sollte er ihr begegnen? Wo war ihr Mann, der sie jetzt hätte halten und trösten müssen? Sein Blick wanderte durch das Fenster auf den Vorhof hinaus. Dort tobten zwei Kinder um das Auto der Familie herum. Ein Junge und ein Mädchen. Beide mochten um die zehn Jahre alt sein.

 »Können wir nicht einen Tag eher ins Haus einziehen?«, rissen ihn ihre Worte aus seinen Gedanken. Sie hatte sich schnell gefangen und doch glitzerten Tränen in ihren smaragdgrünen Augen. »Ich meine, ich kann es natürlich bezahlen.«

 Der Ferienhausvermieter rieb sich nachdenklich das Kinn. Das deutlich vernehmbare Kratzen war ihm peinlich. Hatte er sich nicht heute Morgen rasieren wollen? Unwichtig, ihre Blicke verlangten nach einer Antwort. »Es tut mir leid. Das Haus, das Sie gemietet haben, wird erst zu morgen Nachmittag frei sein.« Fasziniert beobachtete Peder, wie sich ihre Haltung veränderte. Eine verbissene Härte überschattete ihre Miene.

 »Dann müssen wir uns ein Hotel nehmen. Herr …«

 »Wieland.« Er griff zum Telefon und wählte die Nummer des nächstbesten Hotels im Ort. Zumindest hierbei wollte er ihr behilflich sein. »Ich will versuchen, etwas für euch zu erreichen. Obwohl ich befürchte, dass der Ort zurzeit viele Besucher hat.«

 »Mama, wann geht es denn endlich los?«, platzte der Junge in den Raum. »Das ist echt langweilig und Camilla fängt schon wieder an rumzujammern.«

 Peder folgte mit einem Ohr der Auseinandersetzung zwischen dem quengligen Jungen und seiner völlig überfordert wirkenden Mutter. Nebenbei bemühte er sich vergeblich, sie und ihre Kinder in einem der Hotels in der Nähe einzuquartieren. Doch selbst im Hvidbjerg Strandhotel bekam er eine Absage.

 In dem Moment, in dem Peder frustriert den Hörer auflegte, flog die Tür donnernd ins Schloss. Der kleine Wüterich schlitterte draußen über den Kies und stampfte so heftig auf, dass die Steinchen nur so durch die Gegend spritzten.

 »Bitte, Sie müssen das Verhalten meines Sohnes entschuldigen. Die Fahrt hierher war für uns alle nervenaufreibend.«

 Ihm war, als wolle sie noch etwas hinzufügen, nur um sich dann doch dagegen zu entscheiden. Stattdessen fragte sie voller Hoffnung: »Haben Sie eben etwas erreichen können?«

 Peder erwachte aus seiner distanzierten Betrachtung und antwortete mit einem Schulterzucken: »Heute ist ein sehr schwieriger Tag, um kurzfristig ein Zimmer zu mieten. Dieses Wochenende findet in Ho ein angesehenes Golfturnier statt. Sämtliche Zimmer sind seit Wochen ausgebucht. Selbst bei den privaten Vermietern, die ich kenne.«

 »Das heißt, wir müssen die Nacht über im Wagen verbringen?«, entrang sich Marisa Fechtner ein verzweifeltes Stöhnen. Oh Gott, wie blamabel war das alles! Musste dieser nette Mann denn all diese Peinlichkeiten mitbekommen? Leons Herumwüten, ihr verstört wirkendes Handeln und ihr Versagen auf ganzer Strecke! Marisa spürte, wie ihre letzten Kräfte sie zu verlassen drohten. Einzig die schmale, hüfthohe Fensterbank versprach ein wenig Halt.

 »Hallo? Hallo, Frau Fechtner.« Peder Wieland hatte sich selten so ohnmächtig gefühlt wie in diesen Augenblicken. Was sollte er tun, wenn sie vor ihm hier zusammenbrach? Er schüttelte die Frau sanft an der Schulter, ohne dass sie ihn wahrzunehmen schien. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?« Blöde Frage! Er eilte nach nebenan, um seinen Gedanken in die Tat umzusetzen. Zurückgekehrt zog er den Bürostuhl mit sich und nötigte sie behutsam, sich daraufzusetzen.

 Dankbar sah Marisa Fechtner zu dem fürsorglichen Mann auf und nahm einen tiefen Schluck zu sich. Selten war es ihr bewusst geworden, wie köstlich das kühle Nass schmeckte. »Was müssen Sie nur von uns denken?«

 Peder schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln. Zumindest sollte es so herüberkommen. »Ich denke, Sie hatten eine lange Anreise. Aus Hannover, oder?«, meinte er sich zu erinnern. »Mit zwei Kindern an Bord und den ständigen Baustellen auf den Straßen stelle ich mir das nicht immer entspannt vor. Ist Ihr Gatte denn nicht mitgekommen?«

 »Nein.« Ihr Gesichtsausdruck versteinerte zusehends, während ihr Blick an ihm vorbei ins Leere glitt. »Es ist dem feinen Herrn etwas dazwischengekommen.«

 Böse Falle. Peder fühlte sich unbehaglich. Diese Frau schien mit all dem, was er in der kurzen Zeit erfahren hatte oder zu wissen glaubte, völlig überfordert zu sein. So konnte er sie keinesfalls auf die Straße lassen und auf morgen vertrösten.

 In diesem Moment betrat ein nächster Kunde das Büro und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich.

 »Moin Herr Wieland. Wegner, Michael Wegner.« Energiegeladen trat der Mann an dem Ferienhausvermittler vorbei und legte den obligatorischen Briefumschlag mit der Stromabrechnung und dem Schlüssel auf den Tresen. »Entschuldigen Sie bitte die Umstände. Wir müssen heute leider Hals über Kopf abreisen. Ich habe das Geld für die Reinigungsgebühr gleich mit hineingelegt. Ich hoffe, es ist okay?«

 »Ja, Herr Wegner«, Peder vergewisserte sich, dass ihm sein „Sorgenkind“ nicht vom Stuhl rutschte. Fieberhaft überlegte er, während er den Tresen umrundete, wer dieser Mieter war. Zumindest würde er sie und die Kinder … Nein! Stimmt, fiel es ihm endlich ein. Was für ein Zufall! Lykkebo! In ihm reifte eine Idee heran, die für alle die Lösung war.

 

 

Kapitel 3

 

 

Politikommissær Ove Rassmussen kehrte aus seiner Gedankenwelt zurück und sah blinzelnd auf die Kirkegade hinab, die sich heute unter seinem Fenster von ihrer ruhigen Seite zeigte. Esbjerg, kam es ihm in den Sinn, die größte Hafenstadt der dänischen Westküste. Sie präsentierte sich an diesem Freitagmittag nicht gerade als der Nabel der Welt. Ein erneutes Klopfen, dasselbe Geräusch, das ihn eben noch davor bewahrt hatte, in stumpfsinnige Nachdenklichkeit zu versinken.

 »Ja, komm rein«, rief er seufzend und beugte sich über die Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Egal wer der Besucher war, er würde einen beschäftigt wirkenden Beamten vorfinden.

 »Hej, Ove. Noch immer fleißig? Oder ist es bei dir auch so langweilig?« Die Eintretende entlockte dem Kommissar ein zurückhaltendes Lächeln.

 »Hej, Anne-Mette.« Rassmussen erhob sich und deutete einladend auf den Besucherstuhl. »Wie kann ich dir helfen?«

 »Vielleicht kann ich dir ja heute helfen«, konterte die sportlich gekleidete Kollegin und folgte seiner Geste. »Hier riecht es nach frischem Kaffee.«

 »Gerade durchgelaufen.« Er begab sich zu dem Aktenschrank, auf dem die Kaffeemaschine stand und baute zwei Becher vor sich auf. »Milch? Wie immer?«

 »Ja gerne.« Anne-Mette Svalbard legte ihre Unterlagen vor sich ab und schlug die Beine übereinander. Mit einem interessierten Lächeln verfolgte sie, wie sich der sympathische Kollege in der Rolle eines Baristas übte. Ja, Ove war schon ein toller Mann, bemerkte sie mit einem Hauch von Wehmut. Leider gab er sich, seitdem er zu ihnen ins Team gekommen war, sehr zurückhaltend. Zumindest was sein Privatleben betraf, ergänzte sie bedauernd für sich.

 »So, das sollte dich wieder aufbauen.«

 »Puh ha, jetzt willst du mich aber verführen«, honorierte sie den lecker aussehenden Kuchen, den er ihr zusätzlich auf einem kleinen Teller servierte. »Kuchen zum Mittag?«

 »Jordbærtærte med pistaciegrus. Ich bin nicht um die Stücke herumgekommen, als ich heute Morgen in Højvangs Bageri war.« Ove setzte sich ihr gegenüber. »Lass es dir schmecken.«

 »Da sage ich nicht Nein.« Anne-Mette rührte ihren Kaffee um und setzte den Löffel an dem süßen Gebäck an. Genussvoll stöhnend rollte sie mit den Augen, als sich die Geschmacksexplosion in ihrem Mund entfaltete. »So wirst du im Handumdrehen mein Lieblingskollege.«

 Ove Rassmussen lächelte verlegen, ohne dass dieses Schmunzeln wirklich seine Augen erreichte. »Einschmeicheln will ich mich damit aber nicht bei dir.«

 Sie nahm sich zurück und fixierte ihn über den Rand des Kaffeebechers hinweg. »Wie hast du dich in den letzten Wochen bei uns eingelebt? Ich meine, es ist bestimmt nicht leicht, von der Verkehrspolizei hierher zu wechseln.«

 »Was ist im Leben schon einfach?« Rassmussen zuckte mit den Schultern und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Wenn ich beruflich vorankommen will, geht es hier bei euch bedeutend schneller.«

 »Ich hoffe nicht, dass du jetzt denkst, ich sei eine Tratschtante. Aber Bjørn Heglund plant, dass wir das neue Team bilden. Da will ich zuvor ein wenig mehr erfahren. Über dich und wie du so tickst.«

 »Ich weiß zwar nicht, welch ein Ruf mir vorangeht. Aber ich bin kein Psycho, falls du das denkst.« Erneut schaffte es das Lachen nicht, seine so intensiv blauen Augen zu erreichen.

 »Das ist beruhigend zu wissen.« Svalbard naschte ein weiteres Mal von ihrem Kuchen. »Man munkelt, dass du letztes Jahr maßgeblich daran beteiligt warst, den Fall Hyrde-Englund aufzuklären. Und dass du gute Connections zum PET besitzt.«

 »Glaub nicht alles, was sich die Waschweiber da draußen erzählen«, dementierte er und winkte ab. »Ich bin nur ein kleines Licht, das ein klein wenig heller leuchten will. Doch sollten wir gut miteinander auskommen, dann verspreche ich dir, dass ich beizeiten mehr von mir beichten werde.«

 »Na, darauf bin ich ja mal gespannt.«

 Es klopfte kurz, wobei sich im selben Moment die Bürotür öffnete. Die Uniformen der Besucher wiesen sie sogleich als Kollegen der Verkehrspolizei aus.

 »Søren!«, erkannte Ove den Eintretenden wieder. Er sprang auf und strebte dem Älteren der Männer entgegen. »Was für eine Überraschung. Kommt doch rein.«

 »Hej, Smutje. Ich dachte, wir machen bei dir einen Antrittsbesuch, jetzt wo du in Esbjerg residierst. Lass dich ansehen.« Der Søren genannte packte Rassmussen an den Schultern und unterzog ihn einer eingehenden Betrachtung. »Aus dir ist ja eine richtige Respektsperson geworden. Aber sag mal, willst du mich nicht deiner netten Besucherin vorstellen? Ist sie deine neue Kollegin?«

 »Entschuldige«, erinnerte sich Ove an seine gute Erziehung und widmete der Kollegin ein bedeutend fröhlicheres Lächeln als zuvor. »Anne-Mette, darf ich dir meinen alten Freund und Ausbilder Søren Schramm vorstellen? Sollte ich einmal als Bulle versagen, dann ist es allein Sørens Versäumnis.«

 Anne-Mette hatte sich erhoben, war an Oves Seite getreten und reichte dem uniformierten Kollegen die Hand. »Hej, es freut mich, euch kennenzulernen. Ja, Ove und ich sollen jetzt ein Team bilden. Beschwerden über ihn gehen also an dich.« Mit einem Augenzwinkern wandte sie sich an den jungen Kollegen, der mit Søren eingetreten war, sich aber im Hintergrund hielt. »Hej, ich bin Anne-Mette. Und du?«

 »Kasper.« Der junge Mann errötete und erwiderte zögernd den festen Händedruck der Frau. »Kasper Truelsen heiße ich. Ich hoffe, wir stören euch nicht.«

 »Kein Problem. Ove und ich haben alles geklärt.« Anne-Mette grüßte fröhlich in die Runde, gönnte Ove ein weiteres Augenzwinkern und huschte aus dem Raum.

 »Sorry, wenn wir ungelegen kommen.« Søren Schramm sah der jungen Frau mit einem anerkennenden Blick hinterher und eroberte den Stuhl, auf dem sie zuvor gesessen hatte. »Wir wollten nicht eure zarten Bande stören.«

 »Hör bitte auf, solche Gerüchte in die Welt zu setzen.« Ove winkte mit einem dementierenden Schnauben ab. »Wir sind nur gute Kollegen und finden uns erst zu einem Team zusammen.«

 »Und doch ist es schade, dass du so sang- und klanglos aus Varde fort bist.« Schramm wandte sich an Kasper, der schweigend die schmale Fensterbank als Sitzgelegenheit auserkoren hatte. »Ove war einer unserer Besten, musst du wissen. Von dem hättest du eine Menge lernen können.«

 »Lass dir von ihm nichts erzählen, Kasper«, korrigierte Ove den alten Ausbilder und ging mit Bechern und der Kaffeekanne herum. »Hätte Søren mir nicht beigestanden, hätte ich die Zeit als Rookie wohl kaum überlebt.«

 »Tiefstapler! Du fehlst uns.« Schramm hielt ihm seinen Becher entgegen und murmelte, sodass nur Ove ihn verstand. »Was ist mit dir los, Junge? Warum?«

 Für einen Wimpernschlag lang stand eine unendliche Trauer im Gesicht des Kommissars geschrieben. Nur um sich gleich darauf erneut in die fröhliche Maske zu wandeln. »Es ist alles okay. Hier komme ich weiter voran.« Ove nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und versuchte, das Thema zu wechseln. »Und? Womit kann ich euch nun wirklich helfen?«

 »Gar nicht. Wir haben euch vorhin einen neuen Kunden geliefert. Das war die Gelegenheit, um einmal bei dir vorbeizusehen.« Søren eroberte die Reste des Kuchens, den Anne-Mette stehen gelassen hatte. »Kasper?« Die Krümel flogen nur so um ihn, als er sich dem jungen Kollegen zuwandte. »Gehst du bitte schon mal zum Wagen? Ich komme gleich nach.«

 »Ja, okay.« Der Kollege schien froh zu sein, das Feld zu räumen. Er stellte den halbvollen Becher ab und hob grüßend die Hand. »War nett, dich kennengelernt zu haben.«

 Ove musste kein Prophet sein, um zu ahnen, was auf ihn zukam. Er spürte überdeutlich, wie sich seine Gesichtsmuskulatur verhärtete. Der Unwille in seiner Stimme war und sollte nicht zu überhören sein. »Du hast nicht vor, lockerzulassen, was?«

 »Nein. Weil ich sehe, dass es dir nicht gut geht. Du siehst mittlerweile aus wie ein Hungerhabicht, mein Junge.«

 »Ja Papa! Man nennt es ausgiebiges Training und gesunde Ernährung«, konterte Ove mürrisch.

 »Dann hättest du Muskeln und eine gesunde Gesichtsfarbe gesammelt. Du aber siehst aus … wie Brun øl og spyt«, nahm Schramm kein Blatt vor den Mund. »Was ist dran an den Gerüchten, die man über dich hört?«

 Ove schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Erst Anne-Mette und nun Søren. Nahm denn das Spießrutenlaufen überhaupt kein Ende? Selbst wenn er wusste, dass Søren der Letzte wäre, der mit seinem Wissen hausieren ging, brachte Ove es nicht fertig, ihm sein Herz auszuschütten. Nicht, solange alles noch so frisch war. »Søren, ich weiß, dass ich mit dir über alles reden kann. Doch diese Geschichte ist ein für alle Male abgehakt und zu den Akten gelegt. Wortwörtlich, denn ich habe eine Verschwiegenheitserklärung vor dem PET ablegen müssen. Wenn ich dir etwas verriete, müsste ich dich gleich darauf erschießen.«

 Søren Schramm lachte hell auf und ließ mit einer abschließenden Geste seine Hände auf die Oberschenkel fallen. »Okay Smutje, du willst es nicht anders. Aber irgendwann, das musst du mir versprechen, reden wir über diese Sache.« Er erhob sich und klopfte sein mitgenommenes Cap in Form. »Melde dich, wenn du Lust auf ein paar schöne kühle Biere hast.«

 Auch Ove erhob sich und umrundete erneut seinen Schreibtisch. »Es war wirklich schön, dass du mich hier besucht hast. Und ja, wir bleiben in Kontakt. Das verspreche ich dir.«

 

***

 

Søren und sein Kollege waren fort. Selbst bei Anne-Mette schien die Sehnsucht, ihn erneut zu sprechen, nicht lebenswichtig. Ove dachte daran, Feierabend zu machen und ins Wochenende zu gehen. Auch auf die Gefahr hin, dass ein leeres Zuhause und eine gewisse Planlosigkeit, wie er die freie Zeit totzuschlagen hatte, wenig überzeugend waren. Nein, da wäre es angebrachter, sich in die laufenden Ermittlungen einzulesen; oder aber weiter in den Schulungsunterlagen zu lernen.

 

Trotz der guten Vorsätze gelang es ihm kaum, sich auf die Grundlagen zur Ausbildung zum Zielfahnder zu konzentrieren. Zu sehr hatten die Gespräche alles in ihm erneut aufgewühlt. All das, was er in den letzten Wochen und Monaten versucht hatte, erfolgreich zu verdrängen. Erfolgreich?!? Mit einem rauen Lachen packte er seine Unterlagen beiseite und rieb sich die brennenden Augen. Es half nicht, sich vor den Erinnerungen zu verschließen. Er musste gegen die Dämonen ankämpfen, ehe sie ihn erneut auffraßen.

 Ove ließ sich in seinem Schreibtischstuhl zurücksinken und schloss die Augen, um in eine gar nicht mal so ferne Vergangenheit zurückzukehren. Zurück in eine Zeit, als er glaubte, endlich sein Glück gefunden zu haben. Der Spätsommer im vergangenen Jahr und die Verwicklungen um einen vermeintlichen Attentäter, der einen Anschlag auf einen Politiker plante. Das Schreien der Möwen, das Blenden des weißen Sandes, der Wind im Dünengras waren so real in ihm, als würde er es in diesem Augenblick gerade erleben. Und in all dem sah er sich und seine Karen. Ihr unbeschwertes Lachen ergriff ihn und zog ihn weiter hinab in eine Erinnerung, aus der er nicht entfliehen konnte.

 

 

Kapitel 4

 

»Komm Silje, es wird Zeit, dass wir eine kleine Pause haben wollen.« Tina Andersen stand in der Tür zur kleinen Kombüse. In der einen Hand die Kaffeekanne, in der anderen ihre obligatorische Pausen-Zigarette. »Für einen Moment haben wir genug gewühlt.«

 Silje musste unwillkürlich schmunzeln. Das war eben ihre Chefin Tina, wie sie leibte und lebte. Auf der einen Seite predigte sie ihr mindestens dreimal am Tag, wie wichtig es sei, Dänisch zu lernen. Auf der anderen Seite plapperte sie ständig in ihrem süßen, verdrehten Deutsch, wenn sie sich miteinander unterhielten. »Sollten wir nicht erst einmal zusehen, dass wir die Ware vom Hof bekommen?«

 »Ach was.« Tina winkte lachend ab. »Wir sind hier in Dänemark. Hier wird nicht geklaut.«

 »Die Zeiten sind leider auch hier vorbei«, wagte Silje bedauernd anzumerken. »Erst letzte Woche ist Mikkels Fahrrad verschwunden.«

 »Das findet sich sicher bald wieder an.« Die Inhaberin der Your own Design-Glaskunstwerkstatt schenkte ihrer einzigen Mitarbeiterin den Becher randvoll ein und deponierte die Kanne zwischen all dem Geschirr, das längst darauf wartete, abgewaschen zu werden. »Nein, es gibt etwas anderes, das ich mit dir besprechen will. Was ich mit dir besprechen muss.« Sie sog tief an ihrer Zigarette und inhalierte den Rauch.

 Das klang unerwartet ernst. Sämtliche Befürchtungen und Ängste durchfuhren Siljes Körper wie ein elektrischer Schlag. Sie spürte dem Schrecken nach und suchte vergeblich, sich gegen das Unausweichliche zu wappnen. Tina würde sich von ihr trennen wollen. Sie wäre zu alt. Ihre Sprachkenntnisse waren noch zu dürftig. Manche Auftragsarbeit war vielleicht nicht perfekt genug. Ein großer, dicker Kloß schob sich ihren Hals hinauf und ließ ihr das Atmen zur Qual werden.

 »Silje, du bist fast ein Jahr bei mir und … das muss ich ehrlich sagen, die Beste, die ich je hatte.«

 »Aber … das war es dann?« Silje erschrak selber vor ihrer piepsigen Stimme. Verdammt, sie liebte ihren Job. Und sie mochte gern mit Tina zusammenarbeiten. Und jetzt sollte alles einfach so …

 »Wie?« Tina stutzte und sah ihre Mitarbeiterin und Freundin erstaunt an. »Nein, hast du etwa gedacht, ich wäre mit dir und deiner Arbeit nicht zufrieden?« Ihr herzhaftes Lachen ging in ein Kopfschütteln über. »Ganz im Gegenteil! Ich will dich fragen, ob du dir vorstellen kannst, Your own Design zu übernehmen und weiterzuführen?«

 »Wieso?« Silje stürzte von einem Schrecken in den nächsten. Sie spürte, wie ihr die Knie nun doch weich wurden. »Du machst Scherze. Das Geschäft läuft endlich rund, wie du letztens gesagt hast. Ich verstehe nicht, wieso du nun abgeben willst? Und dann auch noch, dass du mich fragst.«

 »Genau. Ich frage dich, weil du das Zeug dazu hast, das Geschäft in unserem Sinn und unter diesem Label weiterzuführen.«

 Silje hatte den Hocker erobert und sah noch immer irritiert zu ihrer Freundin und Chefin auf. »Und was ist der wahre Grund?«

 »Ich möchte mehr für meine Familie da sein. Ich möchte reisen und etwas von der Welt erleben. Noch bin ich jung genug, um etwas Neues zu starten.«

 »Das kommt alles so überraschend.« In Siljes Kopf herrschte ein riesiges Durcheinander »Ich habe noch nie mit dem Gedanken gespielt, mich selbstständig zu machen. Geht das überhaupt? Oh, und wie soll das mit dem Geld …?« Silje verbarg ihr Gesicht hinter den schmalen Händen und ließ diese kraftlos wieder fallen. Ängstlich sah sie zu der Freundin auf. »Sei mir bitte nicht böse, aber ich muss mir das erst in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und mit Mads darüber sprechen.«

 »Natürlich«, versprach Tina Andersen und legte ihr behutsam die Hand auf die Schulter. »Lass dir Zeit. Diese Saison über werde ich das Geschäft auf jeden Fall weiterführen. Du solltest es rechtzeitig erfahren und dich mit dem Gedanken vertraut machen, mir nachzufolgen.«

 

***

 

Selbst jetzt, als die Ausstrahlung dieser bemerkenswerten Frau ihm nicht jeden klaren Gedanken raubte, fiel es Peder Wieland schwer, zu sich zu finden. Der ganze Tag war verquer. Er warf einen Blick durch den Rückspiegel auf das ihm folgende Auto. Es war wie an dem Tag, an dem Silje Nehrmann zu ihm kam, um das Ferienhaus zu mieten, auf das sie gerade zufuhren. Damals war die Freundin eine bis in ihre Grundfesten erschütterte und verstörte Frau gewesen, die auf der Flucht war. Marisa, er erlaubte sich, die neue Mieterin in Gedanken beim Vornamen zu nennen, wirkte nicht anders auf ihn.

 Na ja, so viele Gemeinsamkeiten hatten die beiden Frauen dann doch nicht. Rein optisch schon nicht. »Marisa.« Er ließ ihren Namen erneut auf der Zunge zergehen und verdrängte das anklagende Gewissen, dass diese attraktive Frau längst vergeben und Mutter zweier Kinder war. Doch insgeheim ein wenig träumen, das durfte ihm niemand verbieten.

 Was er dann wohl auch tat. Völlig in seine Gedanken versunken, segelte er elegant an der Zufahrt zu Mads̕  Haus vorbei. Wie ärgerlich! Peder bremste scharf und hätte dadurch fast einen Auffahrunfall verursacht. »Forfanden!«, fluchte er leise. Mann! War ihm das peinlich.

 Mit flatternden Gliedern und hochrotem Kopf stieg Peder aus und trat an den SUV der Familie. »Entschuldigen Sie bitte, ich war etwas unachtsam.« Er steckte seine Hände in die Taschen, damit sie das Zittern nicht bemerkte. Oh Mann, wann hatte er das das letzte Mal so gespürt? Bei Sybille? Verstört suchte er im Hier und Jetzt zu bleiben. »Wir müssen ein klein wenig zurücksetzen.«

 »Das ist doch nicht weiter schlimm. Wir sind so froh, dass Sie überhaupt so besorgt um uns sind. Wie können wir das nur wiedergutmachen?«

 Gebannt hingen seine Augen an ihren glänzenden Lippen, die einfach nur zum Küssen einluden. Herre Gud! Was war nur los mit ihm?

 Sie lächelte verstehend, legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück.

 Und er stand hier und hatte so weiche Knochen, dass es ihm nicht einmal gelang, sich zurück zu seinem Wagen zu schleppen. »Mensch, Wieland! Sieh zu, dass du endlich deine Selbstsicherheit wiederfindest.« Er schenkte der auffordernden Lichthupe, die sie betätigte, ein nahezu debiles Lächeln. Als ob sie das sehen konnte, kommentierte seine Logik trocken und verzog sich in ihren Schmollwinkel. Nein, Schluss mit diesem Benehmen. Er war ein nüchtern kalkulierender Geschäftsmann mit ausgeprägtem Servicegedanken. So einfach war es, mehr nicht!

 Peder setzte sich in seinen Wagen und würgte den Rückwärtsgang hinein, dass dieser protestierende Geräusche von sich gab. Wenn er schon einmal dabei war: An seinem Driften musste er auch noch arbeiten. Zumindest brachte er es fertig, den alten Nissan nicht im Graben zu versenken. Zu seiner momentanen „Glückssträhne“ hätte das in jedem Fall kolossal gepasst.

 »Oh, wie idyllisch ist das denn!« Marisa Fechtner hatte ihren Wagen auf dem Naturgrundstück abgestellt und sah mit leuchtenden Augen auf das Häuschen, das im strahlenden Sonnenschein vor ihnen lag. Ein festes Mauerwerk und ein schmuckes Strohdach. Ein Traum von einem Haus, so wie sie es sich daheim immer gewünscht hatte. Doch Boris hatte damals ja auf dieser Stadthausvilla im asketischen Stil bestanden. Boris … ihre kurze Freude verschwand und hinterließ ein großes Fragezeichen in ihr. Nein, nicht jetzt! Jetzt würde sie ebenfalls aussteigen und den Kindern folgen. Diese tobten längst jauchzend über das große Grundstück. Und Herr Wieland wartete auch schon an der Hausecke auf sie.

 »Diesen Blick kenne ich«, begrüßte der Ferienhausvermittler seine Kundin mit einem ansteckenden Lachen. »Aber mit Lykkebo haben Sie wirklich einen guten Griff getan. Ein solides Bauwerk ohne viel Schickimicki.« Peder fand diesen Ausdruck, den Silje damals aufgebracht hatte, so passend, dass er ihn umgehend für sich adoptiert hatte. Er strahlte mit der Sonne um die Wette. »Wer nicht unbedingt auf einer Sauna und einem Pool besteht, der fühlt sich hier geborgen.«

 »Was denn! Kein Pool?« Leon sah enttäuscht auf und blaffte seine Mutter empört an: »Warum denn keinen Pool? Papa hat es uns aber versprochen.«

 »Wenn du mich fragst, junger Mann, gibt es genug Möglichkeiten auszuweichen«, antwortete Wieland für dessen Mutter. »Weißt du, wie erlebnisreich es ist, im Meer zu baden? Die Wassertemperatur hat schon sechzehn Grad und mehr. Außerd…«

 »Ich will nicht ins Meer. Ich will einen Pool!«, quengelte der Junge und stemmte die Fäuste in die Hüften.

 »Beim Hvidbjerg Strand Camping gibt es ein großes Erlebnisbad mit allerlei tiltrækning. Ich meine, das Wasser ist auch wärmer.« Wieland büßte nichts von seiner Freundlichkeit ein.

 »Dann will ich da jetzt hin«, bestand der Junge darauf.

 »Das kannst du gerne machen. Und nein, du musst mir auch gar nicht dabei helfen, das Auto auszupacken.« Marisa Fechtner blieb die Ruhe selbst. Sie streichelte ihrer Tochter, die sich bislang bei allem ruhig und unauffällig verhalten hatte, liebevoll über ihr honigblondes lockiges Haar. »Das machen Camilla und ich ganz allein. Und Camilla darf sich dann das schönste Zimmer von allen aussuchen.« Marisa Fechtner hielt dem Mann auffordernd ihre Hand entgegen. »Wären Sie bitte so nett und geben mir den Schlüssel?«

 »Äh ja«, fand Peter aus seiner stillen Betrachtung zurück und lächelte verhalten. »Auch wenn es keinen Pool hat, so hat es doch Charme und einen ganz bestimmten Zauber.«

 »Und der wäre?« Sie nahm den Schlüssel und öffnete die Tür. »Welchen Zauber meinen Sie?«

 Ihre Blicke ruhten ineinander, als er ihr aus einem tiefen Gefühl heraus gestand: »Es heilt alle Wunden, die einem das Leben zufügt.«

 Marisa Fechtner stockte der Atem. Spürte dieser völlig fremde Mann, wie es in ihr aussah? Seine Worte waren von solch einer Tiefe und Ernsthaftigkeit, dass sie der Wunsch übermannte, er möge mit allem recht behalten.

 »Mama, das sieht aber unordentlich aus«, drang die Stimme des kleinen Mädchens aus dem Inneren des Hauses zu ihnen und zerstörte den innigen Moment, der so nicht hätte sein dürfen.

 Marisa zuckte zusammen und fand dabei nur schwer in die Realität zurück. Dem Herrn Wieland schien es ebenso zu ergehen. Sie wischte die Eindrücke über das eben Geschehene beiseite und trat ins Haus, um zu sehen, was ihre Tochter entdeckt hatte. Ein weiteres Mal packte sie der Schwindel. Herr im Himmel, wie konnte man ein Haus nur so unordentlich verlassen?

 »Herre Gud«, kam es ebenso von Herrn Wieland, als er die Unordnung sah. »Wenn Silje das mitbekommt.« Er sah angestrengt vor sich auf den Fliesenboden, wo das Wasser des abtauenden Gefrierfachs mittlerweile einen mittelgroßen See bildete.

 »Ach kommen Sie. Das kriegen wir schon wieder hin.« Marisa stellte ihre Handtasche ab und begann pragmatisch nach Tüchern zu suchen, damit das Schmelzwasser nicht auch noch die angrenzende Auslegeware flutete. »Schließlich dürfen wir ja einen Tag eher herein. Da ist es doch das Mindeste, was wir tun können.«

 

***

 

Marisa trat an den brusthohen Holzzaun, der die Veranda zum Grundstück hin begrenzte, und sah dem davonfahrenden Auto nach. Herr Wieland winkte aus dem offenen Seitenfenster und lenkte sein Gefährt auf die Straße. Die Hupe klang wie der Husten eines Walrosses, bis es hinter den Kiefern verschwand, die das Haus zur Straße hin abschirmten.

 Was war das heute nur für ein Tag, resümierte sie mit bangem Herzen. Als sie heute Morgen erwachten, hatte Boris das Haus längst verlassen. Der Schmerz der Erinnerung, das Gefühl des Verlassenseins zog ihren Magen zusammen. Hatte sie ihren Mann mit ihrem Verhalten endgültig in die Arme der Anderen getrieben? Diese und all die anderen selbstkritischen Fragen waren den ganzen Tag über in einer Endlosschleife über sie hinweggerollt. Unmöglich, sich dagegen zu wehren oder sich gar davor zu verschließen. Vor den Kindern hatte Boris sich mit einer vagen Ausrede entschuldigt, dass er ein wichtiges Geschäft abzuschließen habe und erst nächste Woche nachkäme. Ein wichtiges Geschäft!, stieß es Marisa sauer auf. Dass sie nicht lachte. Mittlerweile machte er sich ihr gegenüber nicht einmal mehr die Mühe, sein außereheliches Verhältnis abzustreiten.

 »Mama? Bist du traurig?«

 Die kleine Hand ihrer Tochter streichelte ihre eigene und rettete sie aus dem Morast ihrer Gewissensbisse. »Wie?« Marisa kehrte zurück aus ihrer Welt und kniete sich neben Camilla nieder, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. »Ein klein wenig vielleicht, mein Schatz. Doch das ist nicht wegen euch«, fügte sie sogleich an.

 »Auch nicht wegen Leon? Der ist heute echt blöde, oder? Er will unbedingt das größere Zimmer haben.«

 »Leon ist nur auf seine eigene Art traurig, dass Papa nicht mit uns gekommen ist.« Sprach Marisa aus, was sie den ganzen Tag über gespürt hatte. »Und was dein Zimmer betrifft, du schläfst genau über meinem. Wenn du an die Heizung klopfst oder auf den Boden, dann kann ich dich gleich hören. Das ist doch viel schöner, oder?«

 Die Achtjährige schlang ihr die Arme um den Hals und drückte sie liebevoll. »Ja Mama, das ist viel besser. Und außerdem muss Leon sein großes Zimmer viel mehr aufräumen.«

 »Ja, mein Spatz, das stimmt. Und, hast du nun Lust, mir beim Einräumen zu helfen?« Marisa erhob sich aus ihrer Hocke und kehrte mit ihrer Tochter ins Haus zurück. Dabei musste sie immer wieder an die Worte von Herrn Wieland denken: »Das Haus! Es heilt alle Wunden, die einem das Leben zufügt.« Ja, das wäre wirklich schön. Auch wenn es bestimmt mehr als die vier Wochen bedurfte, um ihre Seele gesunden zu lassen.

 

***

 

Peder Wieland war, nachdem er seine Feriengäste im Lykkebo untergebracht hatte, auf direktem Wege heimgefahren. Was für ein verrückter Tag, ging es ihm dabei zum wiederholten Male durch den Kopf. Zuerst das endgültige Aus mit Sybille und dann die leidigen Planungen mit den Reinigungsteams. Er musste Mads und Silje noch anrufen, erinnerte er sich und kam darüber erneut zu Marisa Fechtner. »Marisa.« Peder ließ ihren Namen auf der Zunge zergehen und blendete das Drumherum völlig aus. Ihre Blicke … Siljes Worte, die sie damals von sich gegeben hatte und die er tief in sich verankert hatte: »Die Augen sind der Spiegel der Seele.« Wie wahr diese Worte waren, war ihm spätestens am heutigen Tag bewusst geworden. Allerspätestens, nachdem er in die Augen dieser verheirateten Frau und Mutter von zwei Kindern gesehen hatte.

 Endlich hatte er die Haustür offen und gelangte in den Hauswirtschaftsraum. Jake, sein Kater, thronte auf der Waschmaschine und äugte kurz zu ihm, ehe er seine Aufmerksamkeit erneut den beiden vierbeinigen Damen schenkte, die sich an seinem Futternapf bedienten.

 Peder seufzte schicksalsergeben und knurrte seinem WG-Gefährten in einer Mischung aus Respekt und Empörung entgegen: »Hej Alter, so haben wir nicht gewettet. Du kannst nicht einfach deine Mädels herbringen, sie durchfüttern und ich bleibe weiter solo.«

 Kater Jake fühlte sich über solch geartete Kommentare derart erhaben, dass es nicht einmal zu einem Mauzen reichte. Kopfschüttelnd hing Peder seine Jacke an den Haken und zog die Schuhe aus.

 In der Küche wie auch im Rest des Hauses war es ruhig. Eigentlich wäre Sybille heute da gewesen. Eigentlich … Aus und vorbei. Er stellte seine Tasche auf den Küchentisch und ging durch alle Räume des Hauses, bis er vor dem Kleiderschrank stehen blieb. Sybilles Seite des Schranks war nahezu leer. Zwei oder drei Kleider, etwas Wäsche. Es wirkte auf ihn, als hätte sie längst geplant, mit ihm Schluss zu machen. Wie ferngesteuert nahm er die restlichen Kleider vom Bügel und legte sie fein säuberlich zusammen. Im Büro nebenan stand noch ein Karton. Ja, er würde alles zusammensuchen, was ihr gehörte oder was ihn an sie erinnerte. Es war ein unwirklicher Moment, sich einzugestehen, dass es definitiv aus war.

 

 

 

Kapitel 5

 

Das vertraute Dröhnen der Turboprop-Triebwerke einer C-130 Hercules, die vom Flughafen Aalborg startete, hing über ihm in der Luft. Stig Raun Davidsen warf einen Blick auf seine Uhr und sah dem kleiner werdenden, grauen Rumpf des Militärtransporters nach. Der Versorgungsflug zum Basislager in Grönland, ging es ihm durch den Sinn, ehe er sich erneut seinen schweren Gedanken hingab. Hier in der Einsamkeit war es ihm möglich, in sich zu gehen, Entscheidungen zu treffen und vor den Geistern der Vergangenheit zu flüchten. Er lachte verächtlich über den Terminus „Einsamkeit“, der ihm da eben durch den Kopf gegangen war. Trocken relativierte er für sich: So weit es an der Peripherie einer Großstadt einsam war. Was für Gedanken. Langsam begann er alt und seltsam zu werden. Sein Blick wanderte nach Osten. Dorthin wo sich die Morgensonne anschickte, sich über die altehrwürdige Limfjordsbroen zu schieben.

 In Kürze würde auch hier, nahe Fjordbyen, das Leben erwachen. Öfters hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich hier in der Gegend einzukaufen. Eines dieser kleinen Häuschen, jedes für sich ein Unikat, viel Grün und eine gewisse Abgeschiedenheit zum Nachbarn hin. Spätestens, wenn er den Dienst beim Jægerkorpset quittierte und in den Ruhestand ging. Wovor ihn der Herrgott bewahren mochte, fügte Stig Raun Davidsen an und spürte dabei, wie sich seine Mundwinkel zynisch nach unten verzogen.

 Von einer seltsamen inneren Unruhe getrieben erhob er sich von der altersschwachen Parkbank und streckte sich und seine steif gewordenen Glieder. Mit dem Sonnenaufgang kam ein kühler Wind auf, der ungestüm über den Limfjord ging und dessen Wasser kräuselte. Dort, auf der Nordseite, nah am Ufer wuchsen zwei hässliche Wohnsilos in die Höhe. Sie mochten annähernd zwanzig oder mehr Stockwerke besitzen. Wie sollte man sich nur in solch einer Burg wohlfühlen, kehrten seine Gedanken zum nahenden Ruhestand zurück. Nein, das alles hier war nicht seine Welt. Das war es nie gewesen. Ein nochmaliger Blick auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass er in die Unterkunft zurückkehrte. Es gab genug für die anstehende Gefechtsübung vorzubereiten.

 

So viele Monate des Planens, die ganze Zeit des Vorbereitens. Alles für diesen einen Augenblick, den er voll auszukosten gedachte. Er ließ die Stahltür zum Treppenhaus in ihr Schloss gleiten und trat langsam auf die schmucklos daliegende Dachterrasse hinaus. Seine Vorsicht war unbegründet. Niemand hielt sich hier oben auf. Der Ostwind blies in dieser Höhe doch kräftiger, als er es für sich berechnet hatte. Dennoch sollte es keine Probleme geben, solange sein Ziel nur seiner Gewohnheit treu blieb.

 Sich zu allen Seiten hin absichernd bewegte sich der dunkel gekleidete Mann auf den flachen Anbau zu, den man auf das Dach gepflanzt hatte. Mühelos überwand er die Sprossen der kurzen Leiter. Von hier oben besaß er freies Schussfeld auf das ganze südliche Ufer des Limfjords. Es war eine respektable Weite, die er sich für sein Debüt ausgesucht hatte. Doch er wollte allen beweisen, welch ein Fehler es war, ihn fallen zu lassen und ihm den Stempel eines Irren zu verpassen. Forget it!

 In der Zwischenzeit hatte er sich so weit vorgearbeitet, dass das gesamte Südufer des Limfjords vor ihm ausgebreitet lag. Routiniert befreite er das Gewehr aus der Tasche und brachte es vor sich in Anschlag. Ein erster Blick durch die Zieloptik. Die Distanz zum anderen Ufer schrumpfte schlagartig. Er musste nur minimal nachjustieren, um das Ziel zu erfassen. Davidsen, zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk, kommentierte der Taktiker in ihm zufrieden. Das markante Gesicht dieses eitlen, dummen und selbstgerechten Mannes füllte das Fadenkreuz aus. Wie er dort auf der Parkbank saß, verträumt in Richtung der Limfjordsbroen sah und dabei nicht im Mindesten ahnte, dass seine Lebenszeit längst abgelaufen war. Und er allein war das Werkzeug. Ein Schauer göttlicher Allmacht durchströmte ihn. Die Zielerfassung wanderte zu dem Stück Stoff, das sich wie zufällig unweit im Geäst eines jungen Baumes verfangen hatte. Das Halstuch einer Frau. Alt, verwittert und unbeachtet bewegte es sich in der Morgenbrise. Er spürte es in allen Nervenenden. Es würde der ideale Schuss werden. Sein Opfer erhob sich und streckte sich ausgiebig in der Morgensonne. Trotz seines Alters wirkte er athletisch und sah blendend aus. So manche Frau hätte sich bestimmt nach ihm umgedreht. Ohne Eile nahm der Heckenschütze sein Ziel erneut ins Visier. Bevor Stig Raun Davidsen, der ›Adler von Basra‹, seine tägliche Routine aufnahm, würde er sich einmal um sich selbst drehen und mit den Blicken in die Ferne schweifen. Da … jetzt. Den Puls senken, Atmung flach halten, flüsterte es im Hintergrund seiner Wahrnehmung. Dieser harte Blick aus stahlgrauen Augen. Mitleidlos, wie bei ihrem letzten Zusammentreffen, wühlte der Groll in ihm. Druckpunkt suchen … Ausatmen … und …

 Für einen unendlich lange währenden Augenblick schien die Welt für ihn den Atem anzuhalten. Eine Leere, die sich in ihm auszubreiten drohte. Wie von Zauberhand malte sich ein dunkelroter Fleck auf die Stirn, ehe es das Ziel aus der Optik katapultierte.

 Ein unvergleichliches Gefühl durchflutete ihn und füllte seinen Körper bis in die äußersten Nervenenden aus. Endlich Gerechtigkeit für die Schande. Zahltag für alles, was Davidsen ihm und seiner Familie angetan hatte. Er war doch der Beste! Endlich würde man ihn wahrnehmen. Dieser Davidsen war beileibe nicht der Letzte auf seiner Liste.

 Es dauerte eine geraume Zeit, bis er sich in der Lage sah, konzentriert den geordneten Rückzug anzutreten. Das nächste Mal, da war er sich sicher, würde er weit weniger Zeit haben, um zu verschwinden. Ein letzter Blick durch das Zielfernrohr. Der Körper des Mannes lag weiterhin unbemerkt auf dem Grünstreifen hinter der Parkbank, über die ihn das Geschoss getrieben hatte. Selbst auf diese Entfernung hin. Stig Raun Davidsen, das Vaterland dankt dir für deinen aufopferungsvollen Dienst.  ....

 

 

Wie es weitergeht, lesen sie auf den 500 Seiten des neuen Buches.

 

 

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