Das Geheimnis der Stadtchronistin

 

 

 

Prolog

 

Was konnte enervierender sein als eine Tagung von Kommunalpolitikern
und höchsten Gemeindevertretern des südhessischen Raumes, verwünschte
der gepflegt erscheinende Mittfünfziger seine momentane Situation. Er
schnaubte unwillig ins Halbdunkel des imposanten Saales hinein, in dem
er und annähernd dreihundert Leidensgenossen dem von verordnetem
Enthusiasmus getragenen Bericht eines Frankfurter Sozialreferenten
lauschten. Gequirlte Hühnerkacke war das!
Manchmal kam es ihm aus den Ohren heraus, dieses Gejammer über
die knappe, wenn nicht gar desolate Haushaltslage und die immer weiteren
Forderungen von Bund und Land. Natürlich war es anstrengend, eine
Gemeinde am Florieren zu halten. Aber es war machbar! Man musste nur
eine Portion Mut, Abenteuergeist und die gewissen Beziehungen haben,
um selbst eine Stadt wie sein Gernhausen mit einem leichten Gewinn in
der Stadtkasse über die Runden zu bringen. Die Art und Weise, wie er
dieses bewerkstelligte, würde zwar nie die Grundlage für einen versierten
Vortrag sein. Was jedoch zählte, war das Ergebnis. Und das konnte sich
allemal sehen lassen …
Nils-Ole Händler spürte das Vibrieren seines iPhones an der Brust,
während die leise Melodie von Marilyns „Diamonds are a girl’s best
friend“ eine eingehende SMS ankündigte. Ein zufriedenes Lächeln huschte
ihm über die Lippen, als er den knappen Text ihrer Antwort las.
„Montpellier 18 Uhr. Weiße Rose und die Elle in der Hand.“
Was zum Henker war die Elle? Egal, er war sich sicher, die richtige
Frau auf Anhieb zu erkennen. Zufrieden ließ sich Nils-Ole Händler in
seinem „Kinosessel“ zurücksinken und gönnte sich den Luxus, gedanklich
abzuschalten. Den kommenden Abend im Geiste zu planen und durchzugehen,
war wichtiger als jeder Vortrag.

 

                                                           ***
Mit weitaus gemischteren Gefühlen legte die Absenderin der SMS ihr
Handy beiseite und betrachtete diese wunderschöne, selbstbewusst wirkende
Frau, die sie aus dem großen Spiegel heraus ansah. Einzig der skeptische
Blick aus dunkelbraunen Augen spiegelte noch eine Spur von Verunsicherung
wider.
Es war immer so, wenn es zu einem neuen „Klienten“ ging. Selbst
nach Jahren in diesem Geschäft. Die immer wiederkehrende Frage, ob sie
mit ihm Glück hatte oder ob sie nicht doch irgendwann an einen Psychopathen
geriet. Die Erinnerung an seine Stimme gestern am Telefon ließ ihr
einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. Dunkel, markant und
geheimnisvoll, mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein. Christin
Thorstraten rief sich nochmals seine Worte in Erinnerung, während sie ihr
langes, in Wellen fallendes Haar ausgiebig mit einer Bürste bearbeitete. Er
hatte sich ihr unter den Namen Nils-Ole vorgestellt. Er sei Geschäftsmann
aus der Nähe Frankfurts und hätte ein verlängertes Wochenende in der
Stadt – mit einsamen Abenden. Wenn sie nicht abgeneigt sei und Zeit habe,
würde er sich freuen, ihre Dienste für die kommenden zwei Tage in
den späten Nachmittags- und Abendstunden in Anspruch zu nehmen.
Auf ihre Frage hin, wer sie empfohlen habe und für seinen Leumund
garantieren könne, hatte er mit einer Spur Bedauern in der Stimme geantwortet,
dass er ihre Adresse und Profession von einem guten alten Freund
faktisch geerbt habe. Hartmut Schneider und er seien viele Jahre enge
Freunde gewesen. Auf dem Sterbebett habe ihm sein Freund von seinen
amourösen Abenteuern mit einer sehr netten und vor allem sehr verschwiegenen
jungen Dame erzählt.
Christin konnte sich sehr wohl an Hartmut erinnern. Und auch jetzt, als
sie an das gestrige Gespräch dachte, erfüllte es sie mit einer Spur von
Traurigkeit, dass dieser nette und vor allem sehr spendable Mann nicht
mehr unter ihnen weilte.
»Scheiß drauf«, knurrte sie ihr Spiegelbild an. Irgendwann traf es jeden.
Und wenn Hartmut ihr einen „Erben“ vermittelte, dann wollte sie ihn
sich zumindest anschauen. Zumal es in ihrem Geschäft – wie jetzt im
Februar – immer recht flau war. Außerdem war da, wie gesagt … seine
Stimme. Sie hatte etwas an sich, das sie nicht ruhen ließ. Ein letzter Blick
in den Spiegel. Fast perfekt, wenn auch das halbe Pfund Concealer unter
ihren Augen dem aufmerksamen Beobachter offenbarte, dass die letzte
Nacht recht kurz gewesen war. Wer konnte auch ahnen, dass zwei kleine
Japaner so viel Ausdauer besaßen. Christin Thorstraten gönnte dieser
selbstbewussten Frau ein letztes siegessicheres Lächeln und verließ ihr
Bad.

 

                                                            ***
Kurz vor sechs Uhr erschien Nils-Ole Händler in der Bar des Montpellier,
eines Hotels in Frankfurts Toplage und eines erfolgreichen Politikers
würdig. Ein prüfender Blick in einen der reichlich vorhandenen Spiegel.
Perfekt! Fehlte nur noch die junge Frau, die annähernd der erwarteten
Beschreibung entsprach. Mit einem Anflug von Grauen registrierte er die
genüsslichen Blicke dieser Matrone in Eingangsnähe. Herr im Himmel,
flehte alles in ihm, hoffentlich geriet er nicht an so etwas! Da konnte er
gleich daheim seine Alte beglücken. Händler schenkte der Frau ein geringschätziges
Lächeln und strebte an ihr vorbei in die Mitte der Lounge.
Ein Kellner trat geflissentlich an die Sitzgruppe heran, machte aber sofort
kehrt, als der Gast ihm mit einem Wink zu verstehen gab, dass er zu
warten gedachte.
Nils-Oles Geduld wurde nicht lange strapaziert. Langstielige cremefarbene
Rose und eine aufgerollte Zeitschrift in der Hand. Schon mit dem
ersten Blick registrierte er, dass diese grazile Blondine atemberaubend
schön war. Ein knapper Blick zur Uhr. Er schätzte Pünktlichkeit. Sie sah
sich suchend um, bis ihr Blick auf seiner Wenigkeit ruhen blieb. Mit
einem selbstbewussten Lächeln ließ sie den einen oder anderen allein
stehenden Herrn an der Bar links liegen stehen und nahm mit langsamen,
andächtig wirkenden Schritten Kurs auf ihn. Diese Frau hatte eindeutig
Geschmack. Ein edles baumwollfarbenes Kleid, kniefrei, goldbraune Beine,
in beigefarbenen Wildlederstiefeln endend. Nichts an ihr war von der
Stange, erkannte er selbst als Laie.
»Guten Tag.« Das dunkle Timbre ihrer Stimme drang bis in seine Lenden
hinein. »Nils-Ole?«
Wann hatte er jemals solch ein Herzklopfen verspürt, fragte er sich, als
er sich erhob und sie mit einem angedeuteten Handkuss begrüßte. »Frau
Thorstraten?«
Sie nickte mit vornehmer Zurückhaltung und schenkte ihm ein schüchternes
Lächeln.
Andächtig nahm er die Feinheiten ihrer Erscheinung in sich auf. Ein
perfektes Make-up, wenn er das beurteilen durfte. Die unterschiedlichen
Töne ihres Lidschattens, der ihre dunklen, verruchten Blicke untermalte
und sie doch so sinnlich wirken ließ. Er fühlte sich in einen Zustand versetzt,
den Dichter verspüren mussten, wenn sie Meisterwerke schufen.
Sie ließ seine stille, im Grunde genommen unhöfliche Musterung über
sich ergehen. Wie jemand, der es gewohnt ist, immer wieder aufs Neue
oberflächliche Bekanntschaften zu schließen.
»Offenbar sagen Ihnen meine äußeren Reize zu«, stellte seine Besucherin
mit einem leisen, ja rauchigen Lachen fest und setzte sich mit einer
fließenden Bewegung.
Für einen Moment brachte ihn ihre Offenheit zur Besinnung. Er setzte
sich ebenfalls und enthüllte ein selbstbewusstes Lächeln, das sich mit
ihrem messen konnte. »In der Tat. Ich würde sogar sagen, dass Sie mir
mehr als sympathisch sind. Wenn es nach mir geht, soll es uns an netten
Gesprächen und interessanten Unternehmungen nicht mangeln.«
Ehe Christin darauf antworten konnte, trat der Barmann auf sie zu. Sie
bestellte sich einen Chardonnay, während ihr Gastgeber einen sauer Gespritzten
orderte. Gelegenheit, um den Klienten für sich zu prüfen. Das
Ergebnis fiel mehr als vielversprechend aus. Gepflegte Erscheinung, bis
hin zu den manikürten Händen. Volles dunkelblondes Haar, in das sich
vereinzelt silberne Fäden schlichen. Gepflegter Vollbart in einem gebräunten
Gesicht; bei dem zu dieser Jahreszeit – es sei ihm verziehen – ein Tur8
bobräuner mitgewirkt hatte. Das Imponierende an ihm waren jedoch seine
geheimnisvollen grauen Augen. Augen, die ihr das Gefühl gaben, als
könnten sie bis in die unergründlichsten Tiefen ihrer Seele hineinschauen.
Ja, jetzt passierte es ihr sogar, dass sie ertappt und errötend die Augen
niederschlug. Herr im Himmel, wann war ihr das das letzte Mal einem
Mann gegenüber passiert?
»Das mit der Sympathie scheint zumindest beiderseitig zu sein«, stellte
er mit einem leicht spöttischen Ton fest, der ihr dennoch nicht ihre Würde
raubte.
»Ja, das lässt sich nicht leugnen.« Christin Thorstraten gab sich die
Blöße, etwas tiefer durchzuatmen, und zauberte ein zufriedenes Lächeln
hervor. Schnell hatte sie sich wieder im Griff. »Nachdem das erste Eis
also gebrochen ist …« Sie schlug die Beine übereinander. »Hartmut hat
mit Ihnen über meine Gebühren und Prämissen gesprochen?«
Nils-Ole Händler nickte und sagte mit leiser und dennoch fester Stimme.
»Zwei Stunden Essen gehen, Smalltalk vierhundert aufwärts. Die
Nacht elfhundert und definitiv kein ungeschützter Verkehr.«
Sie nickte ernst und ergänzte zum besseren Verständnis. »Nebenkosten
gehen zulasten des Kunden. Und Verkehr, nur wenn ich selbst dazu bereit
bin.«
Der hinzutretende Kellner ließ das Gespräch stocken. Als sich der Störenfried
endlich abwandte, erhob Händler sein Glas. »Ich finde, das ist
eine vernünftige Grundlage, auf der wir gemeinsam arbeiten können. Ich
bin der Nils.«
»Christin«, übertönte sie das leise Klingen der Gläser und zwinkerte
ihm zufrieden zu. »Auf gute Zusammenarbeit.«

                                                                    Kapitel 1

 


Die rapshonigfarbene Frühjahrssonne setzte sein Büro in ein ganz besonderes
Licht. Wie ein göttlicher Beistand, der ihn und seine Gedanken begleitete
und segnete. Es waren die Szenen ihres ersten Treffens, derer er
sich erinnerte. Wie auch die der weiteren Stunden und folgenden Treffen,
resümierte Nils-Ole Händler zufrieden und gönnte sich den Luxus, sich
zufrieden in seinem imposanten Chefsessel zu aalen.
Alles, aber auch einfach alles lief für ihn seitdem wie am Schnürchen.
Der Vertrag mit der Plast-Modrow AG war in dieser Woche unter Dach
und Fach gebracht worden. Ein Jahrhundertgeschäft, das er fast im Alleingang
für die Stadt an Land gezogen hatte. Das bedeutete Gewerbesteuer –
nicht zu viel, denn das war ja unter anderem der Deal – und viele neue
Arbeitsplätze. Natürlich fiel auch für ihn etwas ab, erinnerte er sich an die
erkleckliche Summe, die heute auf seinem persönlichen Nummernkonto
in Zürich eingegangen war. Spielgeld! Er lächelte zufrieden. Christin und
er würden eine schöne Zeit miteinander haben. Christin von seiner Idee zu
überzeugen, erinnerte er sich ernüchtert, war rückblickend aufreibender
gewesen, als ein Unternehmen mit neuen Arbeitsplätzen anzusiedeln. Erst
war sie seinen Ideen gegenüber gar nicht aufgeschlossen und wollte ihre
Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit auf keinen Fall aufgeben.
Doch wer konnte schon einem Nils-Ole Händler widerstehen. Jeder
Mensch war käuflich, auch eine Christin Thorstraten. Die sich, wie er sich
eingestehen musste, teuer verkauft hatte. Fünfzehntausend im Monat, plus
freie Wohnung. Dafür würde sie ihm allein zur Verfügung stehen; Diskretion
natürlich inbegriffen.
Ein Schauer der Erregung lief Händler über den Rücken, als er für sich
feststellte, dass sie Seelenverwandte waren. Herzlich zueinander, dabei
doch nie den Blick aufs Wesentliche verlieren. Geld, Macht, gute Beziehungen
und ungeteilte Hingabe. Dass besonders Letzteres zwischen ihnen
stimmte, im Bett und an allen möglichen und unmöglichen Orten, darüber
gab es nichts zu klagen. Etwas, das längst über alles Geschäftliche hinausging.
Er schloss die Augen und genoss die Erinnerungen, bis ihn die
Alltagsgeschäfte eines Bürgermeisters wieder einholten.

Nur kurz sollte es Nils-Ole Händler an diesem Tag noch vergönnt sein,
an seine Geliebte und eine rosige Zukunft zu denken. Der Moment, an
dem ihm Frederik, seine rechte Hand und engster Vertrauter, mitteilte,
dass die Wohnung für eine gewisse Dame hergerichtet sei und bezogen
werden könne. Das war wohl sein größter persönlicher Coup gewesen, bei
dem er sich ob seiner Gerissenheit auf die Schulter klopfen konnte. Und
ein Bilderbuchbeispiel dafür, dass alles in der Stadt nach seiner Pfeife
tanzte. Er hatte es der Stiftung „Historisches Gernhausen“ ermöglicht, das
ehemalige Torschreiberhaus, das am Waldtor in der historischen Altstadt
gelegen war, zu übernehmen. Unter der Bedingung, dass Stadt und Stiftung
ein Stipendium einrichten, die es einem jungen, vielversprechenden
Historiker ermöglichten, für ein Jahr – bei Kost und Logis – an der ausführlichen
Chronik ihrer wunderschönen Heimatstadt Gernhausen zu
arbeiten. Welch ein „Zufall“, dass eine gewisse Frau Thorstraten eine Vorliebe
für Historie besaß und ein begonnenes Studium in Sachen Geschichte
vorweisen konnte. Ja, alles lief nach seinen Wünschen. Und die Miete
für ein exklusives Appartement konnte er sich dadurch ebenfalls sparen.

                                                                 Kapitel 2

 


Mit gemischten Gefühlen sah Christin den roten Lichtern des Regionalexpresses
hinterher, wie er den Bahnhof in Richtung Würzburg verließ.
Mit erstaunlicher Schnelle leerte sich der Bahnsteig von den Feierabendpendlern
und ließ die junge Frau mit ihren beiden übergroßen Koffern
zurück.
Nils hatte ihr auf der Fahrt hierher eine SMS geschickt. „Kann leider
nicht persönlich kommen. Schicke Frederik = absolut vertrauenswürdig.
In Vorfreude N.-O.“ Ob er das auch noch sagen würde, wenn ihr dieser
Frederik gefiele? Es war kindisch, so zu reagieren, warf sie sich im Stillen
vor und verdrängte den Vergleich, der sich ihr auftat. Nils würde schon
seine Gründe haben.
»Frau Thorstraten?«
Erschrocken fuhr sie herum und wäre dabei beinahe über eines ihrer
Gepäckstücke gestolpert. Ein Mann mittleren Alters stand vor ihr. Grauer
Anzug, imposante, aber distanziert wirkende Erscheinung, selbst eine
Schirmmütze fehlte nicht.
»Bürgermeister Händler schickt mich, damit ich Sie in Ihr neues Heim
geleite. Er ist untröstlich, nicht selbst zu kommen. Berufliche Verpflichtungen
halten ihn davon ab. Übrigens, ich bin Frederik, Frederik Zander,
der Chauffeur … und bei Bedarf auch das Mädchen für alles.« Er lachte
über seinen vermeintlichen Scherz und ergriff ihre Koffer, als wären sie
Leichtgewichte. »Wenn Sie mir dann bitte zum Wagen folgen möchten.«
Er ging ihr voran und machte an einer exklusiven Luxuskarosse mit
Stern Halt. Sanft öffnete sich die Kofferraumklappe.
Frederik, sie erlaubte sich, ihn so zu nennen, wandte sich ihr zu. »Ist
das Ihr gesamtes Gepäck, Frau Thorstraten?«
»Ja, vorerst. Eine Spedition liefert den Rest.«
Er nickte verstehend und hielt ihr die hintere Tür auf.
Imposant, bemerkte Christin mit einem sachkundigen Rundblick.
Selbst manch Frankfurter Politiker oder Wirtschaftsboss fuhr nicht so
etwas Schickes.
»Wenn es Ihnen genehm ist, würde ich Ihnen gern einen kleinen Teil
Ihrer neuen Heimat zeigen. Bürgermeister Händler bat mich darum«, erbot
sich Frederik und deutete ihr stummes Nicken als Zustimmung.
Schon bald war es Christin ziemlich egal, wohin er fuhr und mit welchem
Enthusiasmus er diese planlose Anhäufung von sauberen Industriearealen
und monotonen Kleinhaussiedlungen als Heimat anpries. Monoton
war exakt der richtige Ausdruck. Und hier sollte sie Monate, wenn nicht
gar Jahre – ginge es nach Nils-Ole – ihr Leben fristen? Sie vermisste bereits
jetzt ihr schönes Loft in Nähe der Frankfurter City, das sie die letzten
zwei Jahre bewohnt hatte.
                                                                     ***
»Papa kommt!!!«
Erschrocken zuckte Jutta Kellermann zusammen, als ihr kleiner Sonnenschein
jubelnd aufsprang und beinahe den Topf mit den gerade geschälten
Kartoffeln mit sich riss.
Hannah spurtete aus der Küche, über den Flur und aus der Haustür hinaus,
wo sie vom kurzen Treppenabsatz hinabsprang. Direkt in die ausgebreiteten
Arme ihres Vaters hinein, dem es gerade eben noch gelang, das
kleine Etwas abzusetzen, das er zuvor im Arm gehalten hatte.
»Hallo, mein Schatz.« Tobias Herder herzte seine Tochter, deren Aufmerksamkeit
jedoch schlagartig dem winselnden Mitbringsel zu seinen
Füßen galt. »Hattest du einen schönen Tag?«
»Wer ist das denn?« Hannah drückte ihrem Vater einen fahrigen Kuss
auf die Wange und strampelte sich hektisch frei.
Das kleine winselnde Etwas versteckte sich hinter dem Bein des großen
Menschen.
»Oh Papa, ein Hündchen. Oh, ist das süüüüüß! Ist das jetzt meins?«
Hannahs Jubelschrei ließ die Frau des Hauses in der Tür erscheinen.
»Ein Hund?«, klang es weitaus weniger begeistert. »Bin ich mit euch beiden
Pflegefällen nicht schon mehr als genug gesegnet?« Sie ergab sich mit
einem Lächeln, begrüßte Tobias mit einem Kuss auf die Wange und beugte
sich zum offenbar jüngsten Familienmitglied hinab.
»Wie heißt sie denn, Papa?« Hannahs Augen leuchteten überirdisch,
während sie das Fellknäuel heftig umarmte, was dieses nicht im Mindesten
zu stören schien. Die kleine Zunge huschte über das Kinn seines neuen
Frauchens und ließ Hannah kichern.
»Sie ist ein Er. Und wie mir der Tierarzt, bei dem ich schon war, sagte,
ist er ein Die-Straße-rauf-und-runter-Hund. Einen Namen müssen wir für
ihn noch finden.«
»Und?« Juttas Blicke sprachen Bände. Im Grunde wussten alle, wer
das Tier die meiste Zeit umsorgen müsste. Sie ergriff Tobias’ Hand und
ließ sich von ihrem Schwiegersohn aufhelfen. Manchmal, an Tagen wie
diesen, spürte sie doch den einen oder anderen Knochen.
Tobias schenkte ihr ein verlegenes Lächeln. »Ich habe ihn auf einem
Rastplatz gefunden«, suchte er nach den Argumenten, die ihm vorhin noch
so vernünftig klangen. »Ausgesetzt, mit einem Paketband an eine Sitzbank
angeleint. Wenn du das Häuflein Elend jaulen gehört hättest … Der
Tierarzt meinte auch, dass das Tierheim völlig überfüllt sei.«
»Balu! Er soll Balu heißen«, krähte Hannah in sein Plädoyer hinein.
»Wir behalten ihn doch, Papa? Oma?«
Wer konnte da etwas dagegen sagen? Außer Jutta vielleicht, die
schließlich ergeben seufzte. »Dann haben wir unser Quartett wohl beisammen.«

 

                                                                     ***
Frederik liebte sein Heimatstädtchen, das stand außer Frage, fand Christin,
die kaum mehr ein Gähnen unterdrücken konnte. Der Tag war anstrengend
genug gewesen. »Frederik, ich verspreche Ihnen, in den nächsten
Tagen werde ich Ihre Stadtführung gern ein weiteres Mal genießen. Aber
nun wäre ich doch froh, möglichst schnell in meine neue Wohnung zu
kommen.« Mit Grausen dachte sie daran, was sie erwarten würde. Nils14
Ole hatte ihr zwar berichtet, dass das Haus von Grund auf saniert sei und
dass er sich um eine geschmackvolle Einrichtung gekümmert habe. Nur,
aus leidlicher Erfahrung wusste sie, was Männer mit „drum kümmern“
meinten. Ein belastbares Doppelbett wäre vermutlich der einzig brauchbare
Gegenstand, den sie erwarten durfte.
»Gern«, brachte sich Frederik in Erinnerung. »Aber einen kleinen
Umweg durch unsere schöne Altstadt muss ich Ihnen doch noch antun.«
Die bislang ruhige Fahrt veränderte sich kurz darauf. Trotz weicher
Federung und Fahrweise übertrug sich das Echo des Kopfsteinpflasters in
den Innenraum.
»Unsere Altstadt ist schließlich eine der schönsten und intaktesten im
gesamten Bundesgebiet. Fast völlig frei von den sogenannten „Bausünden“
«, predigte Frederik andächtig.
Christin verfolgte, dass sein Kopf wie bei einem Wackeldackel hin und
her pendelte. Seine leuchtenden Augen steckten sie sogar mit ihrer Begeisterung
an. Aber nur ein wenig, korrigierte sie sich, als sie daran dachte,
wie man sich hier auf High Heels bewegen sollte. War es doch neben
dem durchgehenden Straßenpflaster ein einziges Bergauf und Bergab.
DAS Trainingszentrum für angehende Bergziegen – definitiv! Die Straßen,
durch die sie kamen, wurden immer verwinkelter und enger. Mit
einer Mischung aus Faszination und Beklemmung sah sie an den Häuserfronten
hinauf. Irgendwo da oben mussten die Giebel unweigerlich gegeneinander
stoßen. Mit einem süffisanten Schmunzeln stellte sie sich bildlich
vor, wie sie mit Nils im Bett lag, er sich auf ihr abmühte und der
Nachbar ihm dabei auf die blanke Kehrseite klatschte. Nein, hier würde
sie nicht lange bleiben, nahm sie sich fest vor. Romantisch aussehende
mittelalterliche Stadthäuser waren nur romantisch, solange man nicht in
ihnen wohnte. Selbst das Wasser würde sie aus einem Brunnen schöpfen
müssen. Oh Gott, Gernhausen war kein Ort, in dem sie „gern hausen“ und
vor allem nicht alt werden wollte.
Kurz darauf verkündete ihr Frederik, dass sie da wären. Er hielt so
dicht an der Hausmauer, dass sie auf die Fahrerseite rutschen musste, um
überhaupt aussteigen zu können.
Nachdem ihre Schuhe einen halbwegs festen Stand gefunden hatten,
sah sich Christin skeptisch um. Es war bereits Mitte April, doch die Dunkelheit
hatte hier in den engen Straßen längst ihren Einzug gehalten. Sogar
die auf alt getrimmte funzlige Beleuchtung war bereits in Betrieb. Hell
genug, um zu erkennen, dass das Haus, vor dem sie stand, ihre schlimmsten
Befürchtungen bei Weitem übertraf. Und hell genug, um die nachgemalte
Jahreszahl im Balken über der verzogenen Haustür zu lesen. 1517.
Das Jahr der letzten Renovierung? Fuck!
»Haben Sie keine Angst.« Frederik Zander las das Entsetzen im Gesicht
der schönen Frau. »Wir müssen ums Eck herum. Die Waldtorgasse
ist so schmal, dass wir nicht einmal kurzfristig dort halten dürfen.« Er
packte wie zuvor auf dem Bahnhof ihre schweren Koffer, als wären es
gerade einmal Einkaufstüten. »Wenn ich vorangehen darf, gnädige Frau.«
Christin hatte Mühe, ihm auf ihren hohen Absätzen zu folgen, so
schnell war er ums Eck verschwunden. Das Erste, was ihr auffiel, war ein
wunderschön restauriertes altes Stadttor, das mit den Resten einer Stadtmauer
perfekt illuminiert in den heraufkriechenden Abend hineinleuchtete.
Hinter diesem glänzte das frische Grün mächtiger Baumkronen. Ein
erstes Mal revidierte sie ihren Entschluss, gleich morgen abzureisen.
»Das Waldtor«, pries ihr Fremdenführer stolz an. »Das Letzte von
ehemals vier Stadttoren und eine unserer schönsten Sehenswürdigkeiten.
Nebenbei beherbergt es unser kleines Mittelalter-Museum.« Er blieb vor
einem Haus rechterhand des Tores stehen. Ein Stockwerk kleiner als die
Häuser in seiner Nachbarschaft – aber bedeutend schmucker.
»Das Torschreiberhaus.« Frederik Zander zog einen Schlüsselbund aus
der Tasche. »Willkommen in Gernhausen und viel Erfolg bei dem, was Sie
für uns und unsere Gemeinde erforschen werden.«
Christin nahm den Schlüssel mit einem dankbaren Lächeln entgegen.
Was ihr dabei durch den Kopf ging, verschwieg sie diesem netten Mann
lieber. Sie schloss auf und betrat das Haus.
Hell gestrichene Wände und ein nagelneuer Laminatfußboden begrüßten
sie. Linkerhand eine schmale, aber doch sehr komfortabel wirkende
Garderobe. Mit jedem Schritt, den sie tat und mit dem sie ihr neues Reich
in Besitz nahm, stiegen ihre Begeisterung und Vorfreude. Alles wirkte so
jungfräulich, kam ihr der Vergleich. Nichts von dem Muff, den sie befürchtet
… und vielleicht ein wenig erhofft hatte.
»Werden Sie mich heute noch benötigen?«
»Wie bitte?« Christin erwachte aus ihrer Andächtigkeit. »Nein, Herr
Zander. Bitte richten Sie dem Bürgermeister meinen Dank aus. Und auch
Ihnen natürlich vielen Dank für alles.«
Er lächelte zurückhaltend und bugsierte die Koffer noch ein Stück weiter
in den Flur hinein. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme erste Nacht,
Frau Thorstraten.«
Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, überfiel Christin eine
Stille, die sie sehnsüchtig erwartet hatte. Endlich konnte sie für sich ihr
neues Heim in Besitz nehmen. Und was sie dabei am meisten erfreute,
Nils-Ole hatte Wort gehalten. Alle Zimmer waren mit funktionellen, teils
sogar hübschen Möbeln ausgestattet. Wie die kleine Küche, deren Front
aus gelaugtem Holz bestand. Andächtig stieg sie die Treppe in den ersten
Stock empor. Es war faszinierend, plötzlich in einem über die gesamte
Grundfläche gehenden Raum zu stehen. Ein gemütliches Wohnzimmer, in
dem die nötigen Stützstreben aus Fachwerk harmonisch eingepasst waren.
Im Hintergrund ein Arbeitszimmer, das durch einen unauffälligen hüfthohen
Raumteiler abgegrenzt war. Selbst die Illusion eines Kamins entdeckte
sie. Ja, hier ließe es sich schon leben. Sie durchschritt andächtig den
Raum und begab sich auf dessen andere Seite, an der eine elegant geschwungene
Treppe in ein weiteres Stockwerk hinaufführte. Ein schmaler
Flur, der an einer mit kunstvollen Schnitzarbeiten versehenen Tür endete.
Flackernder Kerzenschein durchbrach die Dunkelheit des Raumes und
tauchte dessen edle Ausstattung in unruhiges Licht. Obwohl es romantisch
wirkte, wollte sie unbedingt sehen, ob ihre Vermutung zutraf. Ihre Hand
tastete zum Lichtschalter.
                                                                    ***
Blöder Fatzke, dachte der abendliche Spaziergänger grimmig bei sich. Der
Mann mit dem kleinen Hundewelpen sah der protzigen Limousine hinterher.
Solch einen Aufstand zu machen, nur weil Balu sein Beinchen am
Hinterrad gehoben hatte. Tobias Herders Blick ging zurück zum Torschreiberhaus.
Hinter den Fenstern brannte Licht. Es schien neue Bewohner
zu haben. Irgendwie schade, dass er damals den Sanierungsauftrag
nicht bekommen hatte. Nicht dass er sich über mangelnde Aufträge beklagen
müsste. Doch ein Kleinod der Architektur vergangener Jahrhunderte
so zu versauen … Das tat einem in der Seele weh. Er verwarf den nutzlosen
Gedanken und sah auf den kleinen Vierbeiner, der vor ihm saß und
ihn mit seinen Knopfaugen zu hypnotisieren versuchte. »Komm Balu, ich
werde dir zeigen, wo hier die schönsten Bäume für große Hunde stehen.«
                                                                 ***
»Nils-Ole, du bist verrückt!« Christin schüttelte lachend den Kopf über
solch jungenhafte Fantasie. Champagner, Kerzen und erlesene Köstlichkeiten
waren um das Bett, das mehr eine Spielwiese war, verteilt. Das
alles war ja schon lustig, aber sein bestes Stück und die Hüften mit einer
roten Schleife zu versehen … »Was hättest du getan, wenn Frederik mir
meine Koffer hier heraufgetragen hätte? Überhaupt, was machst du
eigentlich hier? Ich denke, du bist auf einem wichtigen Empfang.«
»Bin ich nicht? Nenne es totale Geheimhaltung. Ich wollte dich überraschen
und willkommen heißen.« Nils-Ole Händler ließ sich wie ein
Gekreuzigter fallen und streckte ihr beide Arme entgegen.
Eigentlich, dachte Christin bei sich, sollte sie sich nun in seine Arme
werfen und sich ihm hingeben. Doch sie beließ es vorerst bei einem interessierten
Lachen und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Diese Matratze!
Ein Gedicht, spürte sie bereits jetzt. Überhaupt alles, was er hier hatte
einrichten lassen, war edel und … Sie holte tief Luft. »Nils, wenn du so
weitermachst, kann es passieren, dass ich mich eines Tages doch noch in
dich verliebe.«
»Was, meinst du, ist der Sinn der ganzen Übung, mein Schatz?« Er ergriff
sachte ihre Hand und zog sie langsam zu sich herab. »Ich denke
schon, dass ich dich liebe.«
Nils-Ole Händler spürte ihre Reaktion, wie sie sich versteifte und
plötzlich zu einer fremden Frau wurde. Er gab sie sofort wieder frei, doch
irgendwie schien die Stimmung verflogen.
»Hatten wir nicht schon einmal darüber gesprochen«, sagte sie mit
leicht tadelndem Unterton und gab ihm einen Kuss, der ihm zeigen sollte,
dass sie es ihm nicht nachtrug.
Er wusste selbst nicht, welchem Gefühl er nachgeben sollte. Dem, dass
er sie wahrhaft liebte und um sie kämpfen wollte, oder dem des Gekränkten,
das ihm suggerierte, wie undankbar sie im Grunde war. Christin sah
ihn mit zur Seite gelegtem Kopf an und schenkte ihm dabei einen Blick,
der so gegensätzlich war, dass es ihn schmerzte.
Ihre Hand strich zärtlich über den Saum des roten Schleifenbandes, das
seine Hüften zierte. »Wahre Liebe gibt es nicht, Nils. Lass uns weiterhin
eine schöne Zeit haben und nicht irgendwelchen kindischen Hirngespinsten
hinterherjagen, ja?«
»Du bist ein echter Misanthrop, Mädchen. Weißt du das? Wenn ich das
sagen würde, wäre es bei meinem Alter und meiner Lebenserfahrung annehmbar
«, kam es spöttisch, aber nicht weniger ehrlich von ihm. Langsam
begann er die Knöpfe ihrer viel zu züchtig wirkenden Bluse zu öffnen.
»Magst du es mir nicht verraten?«
Christin betrachtete ihn mit glühenden Blicken, während sie ihre Hand
weiter hinauf schickte und auf seiner dicht behaarten Brust ruhen ließ.
Eine Antwort blieb jedoch aus.
»Wie sieht der Mann aus, der das Herz einer solch desillusionierten
Frau erobert? Was muss er mitbringen?« Er stöhnte vor Lust und Schmerz,
als sich ihre langen rot lackierten Fingernägel in seine Brust gruben. Eine
Harpyie, die ihm bei dem geringsten Fehler sein Herz herausreißen würde.
»Du gibst wohl nie auf, was?«

 

 

 

Ich hoffe sehr, dass auch Sie nicht aufgeben werden und Interesse an

 

                                den nächsten ca. 400 Seiten finden.

 


Über den folgenden Link können Sie "Das Geheimnis der Stadtchronistin"  direkt ab dem Verlags-Shop bestellen:

 

Tredition Shop                            Autorenwelt                     Amazon

 

als eBook auf allen gängigen Shops

 

Kindle (Amazon)        Thalia      Weltbild     Hugendubel     Osiander   u.v.m.